Briefwechsel mit Bundespräsident Steinmeier: Verfassungsauftrag nur bei Sanktionsdrohung erfüllen?

Verfassungsauftrag nur bei Sanktionsdrohung erfüllen?

Staatsleistungen an die Kirchen müs­sen abge­löst werden

Briefwechsel mit Bundespräsident Steinmeier

Seit 100 Jahren wei­gern sich die ver­ant­wort­li­chen Politiker des Bundes und der Länder, den Auftrag der Weimarer Reichsverfassung und des Grundgesetzes zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen zu erfül­len. Aus Anlass die­ses „Jubiläums“ hat sich das „Bündnis alt­recht­li­che Staatsleistungen ablö­sen“ (BA§TA) an Bundespräsident Steinmeier gewandt. Er wur­de gebe­ten, nicht hin­zu­neh­men, dass ein ein­deu­ti­ger Verfassungsbefehl wei­ter­hin bewusst igno­riert wird. Das Bündnis schlug dem Bundespräsidenten vor, die Initiative für eine Veranstaltung zu ergrei­fen, bei der unter Teilnahme der maß­geb­li­chen poli­ti­schen Kräfte und unter Leitung einer sach­kun­di­gen und neu­tra­len Persönlichkeit Möglichkeiten zur Ablösung der Staatsleistungen erör­tert und ein all­ge­mei­ner öffent­li­cher Diskurs zu die­sem Thema eröff­net wer­den kann.

Der Bundespräsident ließ in sei­nem Antwortschreiben mit­tei­len, dass auch er in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung einen sol­chen Verfassungsauftrag sehe. Da für sei­ne Nichterfüllung aber kei­ne Sanktion vor­ge­se­hen sei, unter­lie­ge die Entscheidung der „poli­ti­schen Opportunität“; die Nichtablösung stel­le mit­hin kei­nen Verfassungsbruch dar. Eine Handlungsnotwendigkeit für den Bundespräsidenten sei nicht ersicht­lich. „Stattdessen dürf­te zunächst die wei­te­re Entwicklung der gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Diskussion zu die­sem wich­ti­gen Thema abzu­war­ten sein.“

Dazu nimmt das Bündnis alt­recht­li­che Staatsleistungen ablö­sen (BA§TA)

wie folgt in vier Punkten Stellung:

1. Das Bündnis hält es für bemer­kens­wert, dass nach 100 Jahren Untätigkeit „zunächst“ die wei­te­re (!) Entwicklung abge­war­tet wer­den soll. Entwickelt hat sich bis­her nichts. Das Abwarten kann locker wei­te­re 100 Jahre Stillstand in die­ser Frage bedeu­ten. Dabei heißt Stillstand nicht Festhalten des sta­tus quo, son­dern gemäß den geschlos­se­nen Staatskirchenverträgen: jähr­lich mehr Geld der Länder an die Kirchen. 1950 wur­den (umge­rech­net) etwa 37 Millionen Euro an die evan­ge­li­sche und die katho­li­sche Kirche gezahlt, 1985 bereits 255 Millionen Euro; zuletzt 2019 waren es 548 Millionen Euro. Wann die Milliarde erreicht ist, kann man sich ausrechnen.

2. Bemerkenswert ist nach Auffassung von BA§TA wei­ter, dass der Bundespräsident sich dar­auf beruft, das Grundgesetz sehe für die Nichtablösung kei­ne Sanktion vor. Dem liegt die befremd­li­che Auffassung zugrun­de, ein Verfassungsauftrag brau­che nur dann beach­tet zu wer­den, wenn eine Sanktionierung dro­he. Verfassungsvorschriften müs­sen aber stets, und zwar gemäß ihrem Wortlaut und ihrem Sinn, befolgt wer­den. Die Verfassungsgeber von 1919 beschlos­sen mit der Trennung von Staat und Kirche zugleich die bal­di­ge Ablösung der Staatsleistungen; dass die­se Ablösung mehr als 100 Jahre wür­de auf sich war­ten las­sen, lag mit Sicherheit eben­so außer­halb der Vorstellung der dama­li­gen Akteure wie die Notwendigkeit, Sanktionen zur Durchsetzung andro­hen zu müssen.

3. Unterliegt die Entscheidung über die Ablösung der Staatsleistungen der poli­ti­schen Opportunität, wie der Bundespräsident unter Berufung auf eine Meinung der Wissenschaft vom Staatskirchenrecht behaup­tet? Es emp­fiehlt sich ein Blick auf den Wortlaut der ein­schlä­gi­gen Verfassungsvorschrift: „Die auf Gesetz, Vertrag oder beson­de­ren Rechtstiteln beru­hen­den Staatsleistungen an die Religionsgemeinschaften wer­den durch die Landesgesetzgebung abge­löst. Die Grundsätze hier­für stellt das Reich auf“ (Art. 138 Absatz 1 Weimarer Reichsverfassung, in Artikel 140 Grundgesetz über­nom­men). In die­sem ein­deu­ti­gen Rechtssatz ist von Opportunität, will hei­ßen: von belie­bi­gem poli­ti­schen Verhalten der Verantwortlichen im Bund und in den Ländern, etwa je nach Kassenlage oder nach Kirchennähe, kei­ne Spur zu finden. 

4. Angesichts der bis­he­ri­gen über­ein­stim­men­den ableh­nen­den Haltung und Praxis aller maß­geb­li­chen poli­ti­schen Kräfte in der Bundesrepublik Deutschland seit 1949 in die­ser Frage hin­dert die Pflicht zu Überparteilichkeit und poli­ti­scher Neutralität den Bundespräsidenten nicht dar­an, poli­ti­sche Aktivitäten zur Umsetzung des bis­her seit über­lan­ger Zeit uner­füll­ten Verfassungsauftrags anzu­mah­nen. Im Gegenteil: gera­de weil Frank Walter Steinmeier vor sei­ner Wahl zum Bundespräsidenten als desi­gnier­ter Präsident des Evangelischen Kirchentages galt, wür­de er sei­ne Unabhängigkeit unter Beweis stel­len, wenn er die Politik dazu auf­for­dern wür­de, end­lich – wie das Grundgesetz es ver­langt – die Initiative zu ergrei­fen, eine Initiative, wel­che übri­gens von den bei­den Kirchen seit lan­gem erwar­tet wird.

Johann-Albrecht Haupt
(für das „Bündnis Altrechtliche Staatsleistungen Abschaffen“)


Die gesam­te Korrespondenz

2019-11-23 · Brief des Bündnisses Altrechtliche Staatsleistungen Abschaffen (BAStA) an Bundespräsident Frank Walter Steinmeier (PDF ca. 320 kB)

2019-12-19 · Anwort von Bundespräsident Frank Walter Steinmeier an BAStA (PDF, ca. 410 kB)

2020-02-27 · Obige Stellungnahme des Bündnisses Altrechtliche Staatsleistungen Abschaffen (BAStA) (PDF, ca. 330 kB)


2020-03-02 ⇒ Erwähnung die­ses Schriftwechsels beim huma­nis­ti­schen Pressedienst (hpd)

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